Die Stadt der Todesengel
Als Vincent die Augen aufschlug, war alles um ihn dunkel. Wo war er und wie war er hergekommen? Überhaupt waren seine Erinnerungen fast wie weggeblasen. Das Einzige, was er wusste, war sein Name. Doch sonst? Wer war er? Hatte er Familie? Freunde? Wieso war er hier aufgewacht? Im dunklen Nichts. Vorsichtig machte Vincent ein paar Schritte nach vorne. Zumindest hatte er festen Boden unter den Füßen. Dennoch, nachdem Vincent lange gegangen war, schien es nicht heller zu werden. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit sah er eine Lichtkugel mitten im Gang schweben. Er beschleunigte seine Schritte und stoppte vor der Kugel. Voller Neugier betrachtete er sie. Eine Art Film schien sich darin abzuspielen. Er konnte sehen, wie ein junger Mann mit dunklen Locken am Ufer eines Flusses stand. Es war offenbar nachts und er hob Kieselsteine auf, die er in seine Hosentasche schob. Die moosgrünen Augen spiegelten Trauer und Angst wieder. Dann schritt er die Taschen voll mit Steinen ins Wasser. Nein! Vincent war gewillt zu schreien! Er wollte ihm zurufen: Tu es nicht!
„Das bist du und das war dein Vergehen“, ertönte plötzlich eine Stimme, die den Raum durchschalte. „Wer bist du? Was soll das heißen, das bin ich?“ Ein schmaler Lichtstrahl bildete sich auf den Boden. Vincent folgte ihm. Wie mechanisch bewegte er sich fort. Er schritt weiter, bis er vor einem Spiegel stehenblieb. Er sah hinein und erkannte den jungen Mann wieder, der sich im Fluss ertränkt hatte. Es waren dieselben dunklen Locken und moosgrüne Augen blickten in sein Gesicht. Er verstand nicht, was hier abging. War er jener Mann, der Selbstmord begann? Warum tat er das? Ihm fehlte jegliche Erinnerung. Sollte er nicht tot sein, wenn er Suizid begangen hatte? Eine Gestalt im schwarzen Gewand trat hinter dem Spiegel hervor. Sein Gesicht war unter einer Kapuze verborgen. Sie sprach mit einer hallenden Stimme zu ihm. „Selbstmord ist eine schwere Sünde, für die du sühnen musst.“ Vincent spürte eine klamme Kälte, die durch seinen Körper jagte. „Bin ich tot?“, hauchte er.
„Ich kann mich nicht erinnern.“
„Dir wurden jegliche Erinnerungen gelöscht“, entgegnete die Gestalt. „Das ist das Schicksal aller Menschen, die sich das Leben nehmen. Von nun an bist du dazu berufen, deine Existenz als Todesengel zu fristen. Es ist ebenfalls eine Bürde jedes Selbstmörders.“ Dann hatte er sich das Leben genommen? Und zur Strafe fristete er sein Dasein als Todesengel ohne sämtliche Erinnerungen? Was bedeutete es überhaupt ein Todesengel zu sein? Die Antwort auf diese Frage, lieferte die Kapuzengestalt. „Du wirst die Menschen zum Tod begleiten“, sagte er. „Was? Aber wie stell ich das an?“, erkundigte sich Vincent. „Geh los, dann erfährst du es“, entgegnete sein Gegenüber. Mit den Worten war er ohne weiteres verschwunden. „Warte! Ich habe so viele Fragen!“ Er lief in die Richtung, wo die Gestalt stand, aber es war, als würde er ins Leere laufen. Selbst der Spiegel war verschwunden. Er lief ziellos weiter, bis er in eine Art Stadt landete, die düster gestaltet war, angefangen von grauschwarzen Straßen und Häuser, bis hin zu den schattenhaften Bäumen und Sträucher, wirkte das wie ein trostloser Ort.
Wie sich herausstellte, war dies die Stadt der Todesengel, oder Schattenwelt genannt. Die Kapuzengestalt war zwischenzeitlich aufgetaucht und hatte es ihm es erklärt. Vincent bekam ein Haus zur Verfügung gestellt. Es war ihm gestattet, darin zu wohnen und einzurichten, wie er wünschte. Er fand schon Möbel und Dekorationen vor. Sämtliches in dem Haus kam ihm seltsam vertraut vor, aber zugleich, war ihm alles unbekannt. Die Menschen auf den Fotos, die an der Wand hingen, die kleinen Souveniers, die auf dem Regal standen und alles Andere, was er in diesem Haus sah, kam ihn merkwürdig vertraut vor. Er wusste, es war etwas, aus einem alten Leben, dass er verlassen hatte, aber er konnte nichts von dem zuordnen.
Die Zeit verging und Vincent nutzte sie, um die Schattenwelt zu erkunden. Er traf andere Todesengel, die ihm erklärten, wie ihre Aufträge verliefen. Er brachte in Erfahrung, dass es drei verschiedene Ebenen der Todesengel gab.
1. Ebene: die Novizen
2. Ebene: die Mentoren
3. Ebene: die reinen Engel
Das alles erfuhr er von der vermummten Kapuzengestalt, der sich selber zu den „Ehrwürdigen“ zählte. Er war kein gesprächiger Zeitgenosse und sendete Vincent ohne große Erklärung zu seinen Aufträgen. Meistens tauchte er vor Menschen auf und sagte ihnen, dass sie bald sterben würden. Absolut hilflos sah er zu, wie sie in Tränen ausbrachen oder vollkommen kollabierten. Vincent wusste nicht, wie er diese Menschen trösten sollte. Wie vermochte man jemanden zu beruhigen, der dem Tod geweiht war? Bei der Frage, was es mit den Ebenen auf sich hatte, tappte er vollkommen im Dunkeln. Vincent hasste sein neues Dasein. Jedes Mal trauernde Menschen begegnen und in dieser trostlosen Schattenwelt zu wohnen, war ihm tiefst zuwider. Es war so deprimierend, dass er sich am liebsten wieder das Leben nehmen würde. Aber sein Suizid hatte ihn erst in die Misere gebracht, selbst wenn er sich bisher nicht erinnern konnte, weshalb er diese Untat begangen hatte. Zumindest kehrten Erinnerungsfetzen seines alten Lebens nach jedem erledigten Auftrag ins Gedächtnis zurück. Er konnte sich verschwommen an ein dunkelhaariges Mädchen erinnern. In welcher Beziehung sie zueinanderstanden, wusste er nicht. Waren sie Geschwister? Freunde? Liebhaber? Er hatte keine Ahnung. Eine Eingangshalle, die er mal betrat, geisterte in seinem Gedächtnis herum. Warum er diesen Ort aufsuchte und wo es sich befand, fiel ihm nicht ein. Jeder Erinnerungsfetzen war so diffus, dass es ihm bloß zusätzlich verwirrte und mehr Fragen aufkommen ließ. Es half ihm kein Stück weiter. Wenn er doch nur klare Einblicke in sein altes Leben erhalten konnte. Gleichzeitig fragte er sich, ob er dies überhaupt anstrebte. Allein der Gedanke, eines Tages den Grund für seinen Selbstmord herauszufinden, entfachte die Angst in ihn. Vermutlich war es besser im Dunkeln zu tappen. Möglicherweise sollte er die Aufträge sein lassen. Er war es leid den Ausdruck der Verzweiflung auf den Gesichtern der Menschen zu sehen, wenn er ihnen ankündigte, dass ihr Leben bald ausgehaucht war. Doch konnte er die Missionen nicht ausschlagen. Er wurde bloß ausgesandt und dann war er angehalten seine Pflichten zu erledigen. Vincent wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn er sich wahrhaft weigerte.
„Wie ist es im Himmel?“ Vincent stand an einem Krankenhausbett eines kleinen Mädchens. Der Anblick der Schläuche und Drähten, an dem sie geschlossen war, war echt gruselig. Vincent strebte an, den Auftrag so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
„Ich weiß nicht“, gab er mit belegter Stimme wieder. „Warum nicht? Du hast gesagt, du wärst ein Engel.“
„Ich bin nicht in den Himmel gekommen“, sagte er wahrheitsgetreu. Wie konnte er dem Mädchen den Himmel beschreiben, wenn er selbst nie dagewesen war? „Heißt das, es gibt keinen Himmel?“ Tränen traten in ihre Augen. Sie umklammerte ihre Decke und hier äußerte sich die Verzweiflung wieder, mit der Vincent nicht umgehen konnte. „Jetzt habe ich Angst“, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
„Das brauchst nicht. Es gibt einen Himmel und es ist zauberhaft dort.“ Ein blonder Mann trat durch die Tür. Er trug eine verwaschene Jeans und eine Lederjacke über sein Shirt. Sein lässiges Aussehen schien das Mädchen zu beruhigen. Sie wischte sich die Tränen weg. „Den Himmel gibt es wirklich?“, hakte sie nach.
„Wer bist du?“
„Ich heiße Sam und bin ebenfalls ein Engel.“ Der Mann namens Sam trat zu ihrem Bett und lächelte ihr charmant zu. Er nahm ihre Hand und im nächsten Moment veränderte sich die Umgebung. Sie standen auf eine Lichtung. Der Vollmond tauchte sie in ein fantastisches Licht. Das Nachthemd des Mädchens verwandelte sich in ein hellblaues Prinzessinenkleid. Die Schläuche und Drähte war sie längst los. Inmitten der Lichtung stand ein weiß geflügeltes Pferd. Erstaunt sah sie es an. Vincent konnte es nicht fassen. Wie waren sie hergekommen? Wo war das Krankenhauszimmer abgeblieben?
„Das ist ein Pegasus. Es wartet nur darauf, dass du es besteigst“, hauchte Sam ihr zu. Er begleitete die Kleine und half ihr beim Aufsteigen. Kaum saß sie auf dem Rücken, schwang das Pferd elegant mit seinen Flügeln und hob ab. Das Mädchen gab einen überraschten Laut von sich und schlang die Arme um seinen Hals. Vincent sah verblüfft zu, wie sie über ihre Köpfe davonflogen. „Was ist passiert? Wo sind wir? Wie hast du das gemacht?“, fragte er irritiert. Sam ließ ein amüsiertes Lachen hören. „Du stellst viele Fragen, Vincent“, antwortete er. „Du willst wissen, woher ich deinen Namen weiß? Ich habe dich länger beobachtet und ich muss schon sagen, du brauchst Hilfe. Ich war mal Novize und kenne die Startschwierigkeiten eines Todesengels.“ Ein verschmitztes Lächeln huschte über Sams Lippen, als er Vincents Gesichtsausdruck sah.
„Tut mir leid, dass ich erst jetzt auftauche“, sagte er. „Aber ich wollte erst sehen, wie du dich schlägst.“ Sam lächelte Vincent aufmunternd zu. „Jeder hat es am Anfang schwer. Die Ehrwürdigen sind nicht besonders auskunftsfreudig.“
„Das habe ich gemerkt“, seufzte Vincent. „Ich habe gelernt, dass man den Menschen keine Angst einjagen muss. Es zieht einen selber nur runter. Wenn ich sie begleite, dann möchte ich ihnen die Zeit so angenehm wie erdenklich gestalten. Sie sollen sich so wenig wie möglich fürchten“, erklärte Sam. „Wie stellst du das an?“, fragte Vincent.
„Du scheinst Kräfte zu haben, die ich nicht besitze.“
„Oh doch. Die schlummern in dir. Du musst sie nur erwecken.“
„Wie stelle ich das an?“
„Dafür bin ich jetzt da.“ Sam sah Vincent direkt in die Augen. „Ich werde dich von nun an begleiten.“
Vincent hatte vor noch etwas zu erwidern, als das weiße Pferd mit dem Mädchen zurückkam. „Wie war es?“, fragte Sam, als er sie runterließ.
Ihre Augen glänzten, während sie sprach.
„Es war phantastisch! Wir sind durch die Wolken gebraust. Die sahen aus wie Zuckerwatte und dann sind wir über einen Regenbogen geflogen!“
„Das hört sich echt super an“, hauchte Sam mit einem sanften Lächeln. „Das ist ein Vorgeschmack auf den Himmel. Du brauchst dich vor nichts zu fürchten.“ Im nächsten Moment waren sie nochmals im Krankenhauszimmer. Sam setzte sich zu dem Mädchen. „Und jetzt schlaf. Wenn du wieder aufwachst, dann wartet das Pegasus auf dich“, flüsterte er ihr zu und tippte ihr mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Kurz darauf, schlummerte sie direkt weg. Sam streckte die Hand aus und hielt wie aus dem Nichts erscheinend, eine Sichel fest, die er einmal durch die Luft schwang und Vincent konnte förmlich sehen, wie die Seelen sich von dem Mädchen trennte und durch die Decke schwebte. Seit dem er ein Todesengel war, durfte er das Phänomen beobachten. Auch er musste die Seelen mit der Sichel vom Körper trennen, aber der Ausdruck von Frieden im Gesicht, wenn es passierte, war ihm neu.
„Guck nicht so“, holte Sam ihn lachend aus den Gedanken raus. „In dir schlummern dieselben Kräfte. Ich werde dir helfen, sie zu erwecken. Sieh mich als dein Mentor.“ Er bot ihm die Hand an. Als Vincent einschlug, wusste er, dass Sam nicht nur sein Mentor sein wird. Dies war der Beginn einer tiefen Freundschaft. Er spürte, dass er mit Sam an seine Seite einen Weg aus der Schattenwelt hin zum Licht finden wird.